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SPD Köpenick-Nord

Die Macht in Ohnmacht stärken

Integration

Krisen und Kriege der Welt lassen die Zahlen geflüchteter Menschen ansteigen

 

Von Oliver Igel

„Irgendwann nach 2015 gab es eine Phase, in der die Leute im Bekanntenkreis anfingen, aufeinander loszugehen. Willkommenskultur schlug in Problembewusstsein um, Problembewusstsein in Überfremdungsangst. Gleichzeitig wirkte der Rassismusverdacht wie ein Gift, das ein Gespräch über Seenotrettung binnen Sekunden in einen eskalierenden Streit verwandeln konnte. Langjährige Freundschaften wurden zu Feindschaften, weil der eine etwas gesagt hatte, was der andere nicht ertrug“, so beschreibt die Schriftstellerin Juli Zeh in ihrem großen Roman „Über Menschen“ die Gesellschaft.

Das Leben ist kein Roman, aber wie so häufig steckt in Büchern viel richtige Problembeschreibung. Unser Land ist seit Jahrzehnten erfahren darin, geflüchtete Menschen aufzunehmen – dabei muss man nicht erst in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückgehen. Als die geflüchteten Menschen um 2015 herum aus dem syrischen Bürgerkrieg zu uns kamen, erinnerte kaum jemand daran, dass Turnhallen schon Anfang der neunziger Jahre mit Kriegsflüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien belegt wurden. Die pure Not, Menschen unterzubringen, zwang den Staat dazu. Niemand konnte die Augen schließen und sagen: Jetzt kommt einfach niemand mehr. Die Menschen waren und sind da. Und kamen nachvollziehbar immer wieder die Fragen der Gesellschaft: Wie schaffen wir es, die Menschen aufzunehmen? Können wir das finanzieren – müssen wir selbst Abstriche machen? Aktuell können wir die Krisen und Kriege rund um Europa herum kaum erfassen – Ukraine, Israel, Afghanistan… „Krieg“ ist inzwischen eine eigene offizielle statistische Größe. Mehr als 20 werden damit weltweit gezählt. Unser Wunsch nach Frieden wird in Deutschland gleich mehrdeutig geprägt: natürlich wollen wir Frieden in unserem Land. Wir wollen auch, dass Konflikte nicht in unser Land getragen werden – vor allem wollen wir möglichst nichts mit den Kriegen in den Welt zu tun haben. Und wir lernen schmerzlich, dass es uns nicht gelingt, uns dem zu entziehen. Wir merken mit den enorm gestiegenen Energiepreisen und weiteren Kosten sogar im eigenen Geldbeutel jeden Konflikt. Derzeit steigt wieder die Zahl der Menschen, die aus anderen Ländern in unsere Stadt kommen und eine Unterkunft suchen. Und damit steigt auch die eingangs beschriebene Stimmung der Verunsicherung: mit der stark gestiegenen Belastung des Staates durch die Inflation steigt die Sorge der Menschen, dass wir und unser Staat das alles eben nicht mehr schafft.

Wenn wir heute über die Integration von Menschen reden, dann geht es darum, Realitäten anzuerkennen. Die Menschen kommen und bleiben. In diesen Monaten habe ich als Bezirksbürgermeister die ersten ehemaligen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge eingebürgert. Sieben Jahre und länger mussten sie darauf warten. Sie haben ihre Staatsbürgerschaft aufgegeben, sie wollten Deutsche werden. Voraussetzung dafür ist nicht nur Sprachkenntnis und Wissen über Deutschland, sondern auch, dass sie mit fester Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Sie bringen mitunter mehr mit als andere.

Ärzte schließen ihre Praxen zeitweise, weil sie keine Arzthelfer mehr haben. Wir warten monatelang auf Handwerkertermine, weil keine Arbeitskräfte mehr da sein. Wenn wir in Gaststätten von niemandem oder von Robotern bedient werden, weil keiner sonst Essen und Getränke bringt: dann wird es Zeit die Angst über Bord zu werfen, Ausländerinnen und Ausländer könnten uns unsere Jobs wegnehmen. So war das Denken noch in den neunziger Jahren – entsprechend wurden Restriktionen zu Arbeitsaufnahmen verschärft. Es ist richtig, dass jetzt die Möglichkeiten, einer Arbeit nachzugehen, gelockert werden. Aber wir brauchen auch mehr Sprach- und Integrationskurse. Es ist eine Verschwendung von Lebenszeit, wenn geflüchtete Menschen tatenlos in Unterkünften herumsitzen. Jeder einzelne, der zu uns kommt, hat das Recht dazu, dass seine individuellen Chancen genutzt werden – und dass diese gefordert werden. Wir haben in unserem Land die Möglichkeit, Schutz zu bieten, aber wir dürfen dabei etwas verlangen – nämlich uns zu unterstützen. Umgekehrt heißt das klar: wer uns nicht unterstützt, wer uns sogar schadet, der erhält keine Perspektive bei uns.

Dabei müssen wir als Staat besser werden: das beginnt damit, dass alle Verwaltungsverfahren für geflüchtete Menschen nicht jahrelang gehen dürfen. Die Behörden müssen hier gestärkt werden und schneller arbeiten – ja auch bei schwierigen Entscheidungen. Und unser Staat muss mit mehr Bildungskursen den Menschen eine Perspektive geben, von der wir alle in unserem Land profitieren dürfen.

Wenn wir als Bezirk Integrations-Feste feiern, wenn wir Tage der offenen Türen in Flüchtlingsunterkünften begehen, wenn wir Netzwerke zur Unterstützung von Flüchtlingen bilden – dann tun wir das nicht allein für die Menschen, die neu in unser Land gekommen sind oder die haupt- und ehrenamtlich geflüchtete Menschen unterstützen: wir tun es für unseren Staat, von dem wir wissen, dass wir nicht mehr allein unseren Wohlstand erarbeiten können. Bisher ist Deutschland nach jeder Kriegs- und Flüchtlingssituation gestärkt hervorgegangen: nach dem Zweiten Weltkrieg, nach 1990 und auch nach 2015 bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges. Mit gutem Willen wird das wieder gelingen. Dabei müssen wir weniger über Vorurteile ringen, sondern über das Machen und das Wahrnehmen der Menschen: nämlich jeden einzelnen als Chance für uns zu betrachten. Wir sind eben keine Zuschauer, die ohnmächtig die Situation erfassen – wir müssen etwas daraus machen, was unserem Land nutzt.

 

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